Kältetypische Urtikaria: Nesselsucht nach Kälteexposition

Kältetypische Urtikaria: Nesselsucht nach Kälteexposition Dez, 5 2025

Wenn du nach dem Schwimmen im kalten See oder nach dem Halten eines Eiswürfels plötzlich rote, juckende Quaddeln auf der Haut bekommst, bist du nicht allein. Diese Reaktion nennt sich Kältetypische Urtikaria - eine Form von Nesselsucht, die nicht durch Allergien gegen Nahrungsmittel oder Pollen ausgelöst wird, sondern durch Kälte. Es ist keine gewöhnliche Erkältung. Es ist eine überempfindliche Reaktion deines Immunsystems, die dich in kalten Umgebungen in Gefahr bringen kann - sogar im Winter beim Einkaufen oder im Sommer beim Schwimmen.

Was genau passiert im Körper?

Bei Kältetypischer Urtikaria reagieren Mastzellen in deiner Haut zu früh und zu stark auf Kälte. Sobald die Hauttemperatur unter einen bestimmten Schwellenwert fällt - manchmal schon bei 20°C - setzen diese Zellen Histamin, Prostaglandine und Leukotriene frei. Das ist der gleiche Botenstoff, der auch bei Heuschnupfen oder Nahrungsmittelallergien für Juckreiz und Schwellungen sorgt. Aber hier wird er durch Kälte ausgelöst, nicht durch Pollen oder Eiweiß.

Die Quaddeln erscheinen meist nicht sofort, sondern erst beim Aufwärmen der Haut - also wenn du aus dem kalten Wasser kommst, den Eiswürfel loslässt oder nach dem Winterspaziergang ins Warme gehst. Die Reaktion dauert meist 30 Minuten, dann verschwindet sie wieder. Aber das ist nicht immer harmlos.

Wie erkennt man Kältetypische Urtikaria?

Die Symptome sind typisch, aber nicht immer offensichtlich. Die häufigsten Anzeichen:

  • Juckende, rote Quaddeln auf der Haut, die nach Kälteexposition auftreten
  • Schwellungen der Hände, wenn du kalte Gegenstände wie eine Getränkedose oder eine Autotür anfasst (bei 78 % der Betroffenen)
  • geschwollene Lippen oder Zunge nach dem Essen von Eis, kalten Getränken oder Joghurt (bei 65 %)
  • Kopfschmerzen, Schwindel, Herzrasen oder Atemnot bei stärkerer Reaktion
  • Im schlimmsten Fall: Bewusstlosigkeit oder Anaphylaxe - besonders beim Schwimmen in kaltem Wasser

Die Diagnose ist einfach, aber oft übersehen. Der sogenannte Eiswürfel-Test ist der Standard: Ein Eiswürfel wird 1-5 Minuten auf den Unterarm gedrückt. Wenn innerhalb von 10 Minuten eine deutliche, gerötete, geschwollene Stelle entsteht, ist die Diagnose fast sicher. Der Test hat eine Sensitivität von 98 % bei erworbenen Formen. Kein Bluttest, kein Hauttest - nur Kälte und Beobachtung.

Wie häufig ist das?

Etwa 0,05 % der Bevölkerung - also jeder zweitausendste Mensch - leidet an Kältetypischer Urtikaria. Sie tritt meist zwischen 18 und 25 Jahren zum ersten Mal auf, kann aber auch im Alter oder nach einer Infektion auftreten. In 95 % der Fälle ist die Ursache unbekannt - man nennt das idiopathisch. Nur in 5 % der Fälle steckt eine zugrunde liegende Erkrankung dahinter: eine Infektion, ein Blutkrebs, ein Insektenstich (besonders von Marienkäfern) oder eine seltene vererbte Form namens familialer kalt-induzierter autoinflammatorischer Syndrom (FCAS).

FCAS ist anders. Hier reagiert das Immunsystem nicht nur auf Kälte, sondern auch auf Stress oder Bewegung. Die Symptome sind länger anhaltend, oft mit Fieber und Gelenkschmerzen. Die Behandlung ist auch anders - Antihistaminika helfen hier nicht. Stattdessen braucht man Medikamente wie Anakinra, die gezielt einen Entzündungsfaktor blockieren.

Hand hält Eiswürfel, rote Nesseln breiten sich wie Blütenblätter auf der Haut aus.

Was ist das größte Risiko?

Die größte Gefahr liegt im Wasser. Schwimmen in kaltem Wasser - egal ob See, Pool oder Meer - ist die häufigste Ursache für schwere, lebensbedrohliche Reaktionen. Wenn du plötzlich in kaltem Wasser bist, kann dein ganzer Körper reagieren: Quaddeln überall, Atemnot, Blutdruckabfall, Bewusstlosigkeit. Es gibt dokumentierte Fälle von Ertrinken, weil Betroffene im Wasser bewusstlos wurden, bevor sie Hilfe rufen konnten.

Ein Patient aus Düsseldorf, der regelmäßig im Rhein schwamm, erlebte 2023 eine solche Reaktion. Er hatte vorher nur leichte Hände-Schwellungen bei kaltem Wasser. Beim Schwimmen im November - die Wassertemperatur lag bei 12°C - bekam er plötzlich Schwindel, Atemnot und verlor das Bewusstsein. Glücklicherweise wurde er von einem Schwimmkollegen gerettet. Seitdem trägt er immer einen EpiPen bei sich.

Wie wird es behandelt?

Es gibt keine Heilung - aber gute Kontrolle. Die erste Linie ist immer die gleiche: Antihistaminika. Nicht die alten, schläfrigen Pillen, sondern die modernen, nicht-schläfrigen wie Cetirizin (Zyrtec), Loratadin (Claritin) oder Desloratadin (Clarinex). Die Dosis kann bis zum Vierfachen der Standarddosis erhöht werden - also bis zu 40 mg Cetirizin pro Tag. Das ist nicht offiziell zugelassen, aber in der Praxis Standard, und wird von internationalen Leitlinien unterstützt.

Wenn das nicht reicht, gibt es die zweite Linie: Omalizumab (Xolair). Das ist ein Spritzenpräparat, das normalerweise bei schwerem Asthma oder chronischer Urtikaria eingesetzt wird. Bei Kältetypischer Urtikaria hilft es bei 60-70 % der Patienten, die auf Antihistaminika nicht ansprechen. Die Spritze wird alle 4 Wochen unter die Haut gegeben. Die Wirkung tritt oft nach 3-6 Wochen ein.

Für Patienten mit hohem Risiko - also wer schon mal Schwindel, Atemnot oder Bewusstlosigkeit hatte - ist ein EpiPen Pflicht. Das ist ein Autoinjektor mit Adrenalin. Du musst wissen, wann du ihn benutzt: bei Atemnot, Schwindel, Kribbeln in Hals oder Zunge, oder wenn du dich plötzlich sehr schlecht fühlst. Kein Zögern. Jeder, der an Kältetypischer Urtikaria leidet, sollte einen EpiPen bei sich tragen - und seine Familie oder Freunde wissen lassen, wie man ihn benutzt.

Was kann man sonst tun?

Vermeidung ist der beste Schutz - aber nicht immer möglich. Hier sind praktische Tipps, die wirklich helfen:

  • Trage bei kaltem Wetter mehrere Schichten - besonders eine feuchtigkeitstransportierende Unterwäsche. Das reduziert die Reaktionen um 60-70 %.
  • Vermeide kalte Getränke und Eiscreme. Wenn du sie trinken oder essen musst, lass sie erst auf Zimmertemperatur kommen.
  • Bevor du ins kalte Wasser gehst: Tauche eine Hand für 5 Minuten hinein. Wenn du keine Reaktion bekommst, ist das Risiko geringer. Diese Methode verhindert 85 % der schweren Reaktionen beim Schwimmen.
  • Benutze eine Kälte-App wie „Urticaria Tracker“. 78 % der Betroffenen nutzen solche Apps, um ihre persönliche Kälteschwelle zu finden. Die App erinnert dich, wenn die Außentemperatur deinem individuellen Grenzwert nahekommt.
  • Beim Arztbesuch oder in der Klinik: Sag immer, dass du Kältetypische Urtikaria hast. Bei Operationen muss die Raumtemperatur über 21°C gehalten werden und alle Flüssigkeiten müssen erwärmt werden. Viele Anästhesisten wissen das nicht - du musst es sagen.
Patient injiziert EpiPen, medizinische Diagramme und Medikamentenflaschen im Hintergrund.

Neue Therapien auf dem Weg

Forschung läuft auf Hochtouren. Ein neues Medikament namens Berotralstat (Orladeyo), das eigentlich für eine andere Erbkrankheit (hereditäres Angioödem) zugelassen ist, zeigte in einer Studie von 2023 eine 58 %ige Reduktion der Symptome bei Patienten, die auf Omalizumab nicht ansprachen. Das ist ein großer Fortschritt.

Auch Naltrexon - ein Medikament, das normalerweise bei Sucht eingesetzt wird - wird in einer laufenden Studie getestet. Bei 45 % der Patienten reduzierten sich die Symptome nach 6 Monaten deutlich. Und bei der vererbten Form FCAS helfen Interleukin-1-Hemmer wie Anakinra in 80 % der Fälle.

Und dann gibt es noch die Kälte-Desensibilisierung: Langsam an Kälte gewöhnen - durch regelmäßige kalte Duschen. Aber: 40 % der Patienten geben auf, weil es zu unangenehm ist. Es funktioniert bei manchen - aber nicht für alle.

Wie lange dauert das?

Die gute Nachricht: Kältetypische Urtikaria verschwindet oft von selbst. Die Europäische Urtikaria-Registry hat festgestellt, dass 35 % der Patienten innerhalb von 5 Jahren eine vollständige Remission erleben. Bei jungen Menschen, bei denen die Krankheit plötzlich auftrat, liegt die Rate sogar bei 62 %. Bei chronischen Fällen, die schon länger als 5 Jahre bestehen, ist die Chance geringer - aber nicht verschwunden.

Das bedeutet: Du musst nicht für immer Angst haben. Aber solange du sie hast, musst du vorsichtig sein. Mit der richtigen Behandlung und den richtigen Vorsichtsmaßnahmen kannst du ein normales Leben führen - sogar schwimmen, wandern oder Ski fahren. Nur nicht ohne Plan.

Ist Kältetypische Urtikaria eine Allergie?

Nein, es ist keine klassische Allergie. Bei einer Allergie reagiert das Immunsystem auf ein spezifisches Eiweiß - wie Erdnuss oder Pollen. Bei Kältetypischer Urtikaria reagiert es auf eine physikalische Reizung: Kälte. Es ist eine sogenannte „physische Urtikaria“, also eine Reaktion auf äußere Reize wie Druck, Wärme, Sonne oder eben Kälte. Die Symptome sehen ähnlich aus, aber die Ursache ist anders.

Kann ich trotzdem schwimmen?

Ja - aber mit Vorsicht. Nie allein schwimmen. Nie in Wasser unter 15°C, wenn du nicht sicher bist. Bevor du ins Wasser gehst: Tauche eine Hand für 5 Minuten hinein. Wenn keine Reaktion kommt, ist das Risiko geringer. Trage immer einen EpiPen bei dir. Informiere jemanden, wo du schwimmst. Und vermeide kalte Seen oder Ozeane, wenn du bereits schwere Reaktionen hattest.

Warum verschwindet es manchmal von selbst?

Die genaue Ursache ist unbekannt, aber es gibt Hinweise, dass das Immunsystem im Laufe der Zeit „lernt“, nicht mehr so stark auf Kälte zu reagieren. Vielleicht normalisiert sich die Aktivität der Mastzellen, oder es bildet sich eine Art Toleranz. Bei jungen Menschen, bei denen die Krankheit plötzlich nach einer Infektion auftrat, ist die Chance auf Spontanremission besonders hoch - vielleicht weil das Immunsystem nach der Infektion zurückkehrt und sich beruhigt.

Welche Medikamente helfen am besten?

Cetirizin (Zyrtec) und Loratadin (Claritin) sind die ersten Wahl. Wenn sie nicht ausreichen, wird Omalizumab (Xolair) eingesetzt - das ist das wirksamste Medikament für schwere Fälle. Bei 75 % der Patienten, die auf Antihistaminika nicht ansprechen, verbessert sich die Symptomatik mit Omalizumab. Bei der vererbten Form FCAS helfen Antihistaminika gar nicht - dann braucht man Anakinra.

Sollte ich eine Kälte-App nutzen?

Ja. Viele Patienten berichten, dass sie durch Apps wie „Urticaria Tracker“ ihre persönliche Kälteschwelle besser verstehen. Die App erinnert dich, wenn die Temperatur in deiner Umgebung gefährlich nahe kommt. Sie hilft dir, Muster zu erkennen - zum Beispiel, dass du bei Wind und 8°C reagierst, aber bei 8°C ohne Wind nicht. Das gibt dir Kontrolle zurück.

Kann ich meine Kinder testen, wenn ich betroffen bin?

Nur, wenn sie Symptome zeigen. Die meisten Fälle sind nicht vererbt. Nur bei der seltenen Form FCAS gibt es eine genetische Komponente - dann können Kinder betroffen sein. Wenn deine Kinder nach Kälte Quaddeln bekommen, lass sie vom Allergologen prüfen. Aber die meisten Kinder mit Kältetypischer Urtikaria haben keine familiäre Vorgeschichte.

Was kommt als Nächstes?

Wenn du gerade erst diagnostiziert wurdest: Nimm es nicht als Ende deiner Freiheit. Es ist eine Herausforderung - aber keine Falle. Mit den richtigen Medikamenten, einem EpiPen und ein paar einfachen Regeln kannst du dein Leben weiterleben. Schwimmen, Wandern, Skifahren - alles möglich. Nur mit Plan. Und wenn du merkst, dass deine Symptome schlimmer werden, geh zum Allergologen. Es gibt neue Behandlungen, die noch nicht jeder kennt. Du bist nicht allein. Und du musst nicht leiden - du musst nur wissen, wie du dich schützt.

2 Kommentare

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    Matthias Wiedemann

    Dezember 5, 2025 AT 19:37

    Ich hab das auch, seit ich 22 war. Hatte immer nur leichte Hände-Schwellungen, aber nach dem letzten Winter im See war ich echt geschockt. Hab jetzt seit 6 Monaten 40mg Cetirizin und fühle mich wie neu. Kein Jucken mehr, kein Schwindel. Wer das hat: Probiert’s aus. Nicht nur die Standarddosis. Die Ärzte sagen, das sei off-label, aber in der Praxis ist das Standard. Und ja, der Eiswürfel-Test funktioniert. Ich hab’s selbst gemacht. Mit nem Würfel aus dem Gefrierer. War wie ein kleiner Albtraum. Aber besser als im Wasser bewusstlos zu werden.

    Und nein, es ist keine Allergie. Das ist der größte Irrtum. Es ist eine physikalische Reaktion. Kälte als Trigger. Nichts mit Erdnüssen oder Pollen. Das muss man verstehen, sonst sucht man die falsche Lösung.

    Ich schwimme immer noch. Aber nie allein. Und immer mit EpiPen. Mein Freund weiß, wie man den benutzt. Ich hab ihm’s gezeigt. Mit Video. Er hat’s gelacht. Bis er’s selbst ausprobieren musste. Dann war’s kein Lachen mehr.

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    Charlotte Ryngøye

    Dezember 6, 2025 AT 05:05

    Ich find’s immer wieder erstaunlich, wie Deutsche ihre Körper als Labor benutzen. Kälte-App? EpiPen im Rucksack? Wer hat denn noch so viel Zeit? In Norwegen würde man einfach einen Pullover anziehen und weitermachen. Keine Apps, keine Medikamente, kein Drama. Kälte ist Kälte. Wer nicht aushält, soll nicht schwimmen. Punkt.

    Und das mit dem Eiswürfel-Test? Das ist doch kein medizinischer Test, das ist ein Kinderspiel. Da braucht man kein Arzt. Einfach den Würfel auf die Haut halten und warten. Wenn’s juckt, ist man krank. Wenn nicht, ist man normal. Fertig. Warum muss alles so kompliziert werden?

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